Warum Deutschland bei Medizinprodukten mit KI ins Hintertreffen gerät
Künstliche Intelligenz (KI) revolutioniert die Medizintechnik. KI-basierte Diagnosesysteme, OP-Roboter und andere innovative Produkte versprechen große Fortschritte in der Patientenversorgung. Sie können Ärzte bei komplexen Entscheidungen unterstützen, Eingriffe präziser und schonender machen und die Früherkennung von Krankheiten verbessern. Patienten profitieren von schnelleren und treffsichereren Diagnosen, maßgeschneiderten Therapien und einem insgesamt effizienteren Gesundheitssystem.
Doch während in den USA bereits über 700 KI-Medizinprodukte im Einsatz sind, hinkt Deutschland hinterher. Hierzulande haben bislang nur eine Handvoll Systeme die aufwändige Zulassung geschafft. Im globalen Wettlauf um die Führungsrolle bei medizinischer KI droht Deutschland abgehängt zu werden. Die Folgen sind weitreichend: Patienten bleiben moderne Behandlungsoptionen vorenthalten, Kliniken und Praxen können ihre Abläufe nicht optimieren, Forschungseinrichtungen verlieren den Anschluss und innovative Start-ups wandern ab.
Wir sehen die Gefahr, dass Deutschland den Anschluss verliert. Es braucht dringend einen Regulierungsrahmen, der Innovationen fördert und zugleich die Patientensicherheit gewährleistet. Nur wenn wir die Hürden für die Zulassung von KI-Medizinprodukten senken und gleichzeitig hohe Qualitätsstandards sicherstellen, können wir das enorme Potenzial dieser Zukunftstechnologie ausschöpfen.
Regulierung und Zertifizierung als Hürden
Hauptgrund für die schleppende Entwicklung sind aus unserer Sicht die strengen regulatorischen Anforderungen. KI-Medizinprodukte fallen unter die EU-Medical-Device-Regulation (MDR) und den geplanten AI Act. Beide Regelwerke wurden primär für klassische Medizinprodukte konzipiert und tragen den Besonderheiten von KI-Systemen nur unzureichend Rechnung. Das führt zu einem extrem aufwändigen Zertifizierungsprozess, besonders für lernende Systeme. Jede „wesentliche Änderung“ erfordert eine erneute Konformitätsbewertung durch eine Benannte Stelle. Bei KI-Systemen, die sich kontinuierlich weiterentwickeln und an neue Daten anpassen, entsteht so ein enormer Aufwand. De facto muss jede neue Version oder jedes Update des Systems komplett neu zertifiziert werden.
Das verlangsamt Innovationszyklen und verteuert die Entwicklung enorm. Während ein klassisches Medizinprodukt oft über Jahre unverändert bleibt, durchlaufen KI-Systeme ständig Updates und Optimierungen. Was bei Apps und Softwareprodukten gang und gäbe ist, wird bei KI-Medizinprodukten zum unüberwindbaren Hindernis. Entwickler müssen entweder auf Verbesserungen verzichten oder jedes Mal erneut eine langwierige und teure Zertifizierung durchlaufen.
Zudem fehlt es an klaren Kriterien, wann genau eine Änderung als „wesentlich“ gilt. Schon kleine Anpassungen am Code oder Aktualisierungen der Trainingsdaten können dazu führen, dass das gesamte System neu bewertet werden muss. Für Hersteller ist oft nicht absehbar, welche Änderungen eine Re-Zertifizierung auslösen und welche nicht. Diese Unsicherheit lähmt die Entwicklung und schreckt viele Unternehmen von vornherein ab. Erschwerend kommt hinzu, dass die prüfenden Benannten Stellen oft selbst zu wenig KI-Expertise haben. Es mangelt an qualifizierten Fachkräften, die die komplexen Algorithmen und Modelle wirklich verstehen und bewerten können. Klassische Prüfverfahren, die auf festgelegte Spezifikationen und deterministische Ergebnisse ausgerichtet sind, stoßen bei KI-Systemen an ihre Grenzen. Die Folge sind intransparente, schwer nachvollziehbare Entscheidungen, die für die Hersteller ein hohes Risiko bergen.
All diese Faktoren führen dazu, dass die Zulassung von KI-Medizinprodukten in Deutschland aktuell unverhältnismäßig lange dauert und hohe Kosten verursacht. Während in anderen Ländern bereits eine Vielzahl innovativer Systeme in der klinischen Praxis eingesetzt wird, verharren hierzulande vielversprechende Entwicklungen im Zulassungsstau. Das bremst den medizinischen Fortschritt aus und gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.
Unsicherheiten bremsen Innovationen
Die regulatorischen Unsicherheiten haben gravierende Auswirkungen auf die Branche. Wir beobachten, dass viele Unternehmen zögern, in die Entwicklung von KI-Medizinprodukten zu investieren. Die hohen Zulassungshürden und die unklaren Anforderungen schrecken gerade Start-ups und kleine Firmen ab. Sie scheuen das Risiko, wertvolle Ressourcen in Produkte zu stecken, bei denen unklar ist, ob sie je eine Zulassung erhalten werden.
Selbst große Konzerne, die an sich die finanziellen Mittel für eine aufwändige Zertifizierung hätten, halten sich zurück. Zu groß ist die Unsicherheit, ob sich die Investitionen am Ende auszahlen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf Märkte wie die USA oder China, wo klarere Verhältnisse herrschen und die Zulassungsverfahren besser auf KI-Systeme zugeschnitten sind.
Ein warnendes Beispiel ist ein KI-gestütztes Hautkrebsscreening-System, das in den USA schon lange erfolgreich arbeitet. Es kann anhand von Smartphone-Fotos verdächtige Hautveränderungen erkennen und so die Früherkennung von Melanomen verbessern. In Deutschland erhielt es erst mit mehrjähriger Verspätung die Zulassung – wegen unklarer Regularien und Zertifizierungshürden. Ähnlich erging es einem KI-Tool, das Radiologen bei der Erkennung von Lungenkrebs unterstützt. Obwohl die Technologie nachweislich die Treffsicherheit der Diagnosen erhöht, verzichtete der Hersteller zunächst auf eine Einführung in Deutschland – der Zertifizierungsaufwand war schlicht zu hoch. Solche Fälle sind leider kein Einzelfall. Wir hören immer wieder von vielversprechenden Projekten, die in der Schublade verschwinden, weil die regulatorischen Hürden unüberwindbar erscheinen. Viele Entwickler scheuen am Ende den Gang durch das Zulassungslabyrinth. Stattdessen landen innovative Ideen auf Eis oder werden gleich auf andere Länder ausgerichtet. Eine fatale Entwicklung für den Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Dabei geht es nicht nur um ökonomische Aspekte. Letztlich sind es die Patienten, die den Preis für die ausgebremste Innovation zahlen. Ihnen entgehen moderne Diagnose- und Therapieverfahren, die anderswo längst zum Standard gehören. Lebensrettende Technologien, die Krankheiten früher erkennen und zielgerichteter behandeln können, kommen in Deutschland verzögert oder gar nicht zum Einsatz. Ein ethisch schwer vertretbarer Zustand.
Der Weg zu einer idealen Regulierung
Was muss sich ändern, damit Deutschland zum Vorreiter für KI-Medizinprodukte wird? Wir sehen mehrere Ansatzpunkte für eine Regulierung, die Innovationen fördert und gleichzeitig die Patientensicherheit gewährleistet.
An erster Stelle steht für uns ein differenzierterer Ansatz bei der Risikoklassifizierung. Die pauschale Einstufung von KI-Systemen in die höchste Risikoklasse wird der Vielfalt der Anwendungen nicht gerecht. Stattdessen braucht es eine abgestufte Klassifizierung, die sich am tatsächlichen Gefährdungspotenzial orientiert. Nicht jedes KI-System, das in der Medizin zum Einsatz kommt, birgt ein hohes Risiko für die Patienten.
Ein Beispiel: Ein KI-Tool, das Radiologen bei der Bildanalyse unterstützt und Auffälligkeiten markiert, die dann vom Arzt überprüft werden, hat ein deutlich geringeres Schadenspotenzial als ein KI-System, das eigenständig Diagnosen stellt und Therapien vorschlägt. Ersteres könnte man analog zu anderen radiologischen Bildgebungsverfahren als Klasse IIa einstufen, letzteres dagegen als Klasse III.
Eine solche differenzierte Betrachtung würde den Zertifizierungsaufwand erheblich reduzieren, ohne die Sicherheit zu gefährden. KI-Systeme mit geringem Risiko könnten dann deutlich schneller und unbürokratischer in die klinische Praxis gelangen, während Hochrisiko-Anwendungen weiterhin einer strengen Prüfung unterzögen. Gleichzeitig sind neue, an KI angepasste Prüfverfahren und Zulassungsprozesse nötig. Die bisherige Vorgehensweise, bei der jede Änderung an einem System manuell bewertet und genehmigt werden muss, stößt bei KI an ihre Grenzen. Stattdessen sollten sich die Zulassungsverfahren an den iterativen Entwicklungszyklen und der Lernfähigkeit von KI-Systemen orientieren.
Ein vielversprechender Ansatz sind kontinuierliche Überwachungs- und Zertifizierungsprozesse. Dabei würde nicht das KI-System selbst, sondern der Entwicklungsprozess und die Qualitätskontrolle des Herstellers zertifiziert. Ähnlich wie bei der ISO 13485 für Medizinprodukte müssten die Unternehmen nachweisen, dass sie robuste Verfahren etabliert haben, um die Sicherheit und Leistungsfähigkeit ihrer KI-Systeme fortlaufend zu überwachen und zu validieren. Teil dieser Verfahren könnten verpflichtende Selbsttests der KI sein. Anhand definierter Benchmarks und Qualitätskriterien würde das System regelmäßig seinen eigenen Status überprüfen. Nur wenn dabei kritische Abweichungen oder Performanceeinbußen festgestellt werden, müsste eine externe Prüfinstanz eingeschaltet werden. Ansonsten könnte die KI-Anwendung ohne aufwändige Re-Zertifizierung kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert werden.
Um dieses „KI-Produktlebenszyklus-Modell“ Realität werden zu lassen, braucht es eine enge Abstimmung zwischen Herstellern, Benannten Stellen, Zulassungsbehörden und Fachexperten. Gemeinsam müssen sie Kriterien, Standards und Testverfahren definieren, die die Besonderheiten von KI-Systemen berücksichtigen. Auch eine zentrale Erfassung und Auswertung von Sicherheits- und Effektivitätsdaten ist nötig, um Probleme frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.
Eine weitere Stellschraube ist die Schaffung von „regulatorischen Sandboxes“ für KI-Medizinprodukte. Dabei handelt es sich um spezielle Testräume, in denen Hersteller ihre Systeme unter realen Bedingungen erproben können, ohne den vollen Zulassungsprozess durchlaufen zu müssen. Unter Aufsicht der Behörden und mit ausgewählten Partnern aus der klinischen Praxis könnte so wertvolles Feedback gesammelt und die Praxistauglichkeit der KI-Anwendungen verbessert werden.
Für die Unternehmen hätte das den Vorteil, dass sie ihre Produkte schneller zur Marktreife bringen und belastbare Daten für die spätere Zertifizierung sammeln könnten. Die Zulassungsbehörden wiederum könnten aus den Sandbox-Projekten wertvolle Erkenntnisse für die Gestaltung der Regularien und Prüfverfahren gewinnen. Auch ethische und soziale Fragen, die sich aus dem KI-Einsatz ergeben, ließen sich im geschützten Raum der Sandbox besser untersuchen und diskutieren.
Fazit: Regulieren mit Augenmaß
KI wird die Zukunft der Medizintechnik prägen. Schon heute zeichnet sich ab, dass KI-gestützte Diagnose- und Therapieverfahren einen ähnlichen Umbruch einleiten könnten wie einst die Einführung bildgebender Verfahren oder minimal-invasiver Operationstechniken. Länder, die jetzt die Weichen für eine innovations- und investitionsfreundliche Regulierung von KI-Medizinprodukten stellen, werden diese Transformation maßgeblich mitgestalten und von ihr profitieren. Deutschland hat das Potenzial, hier eine Führungsrolle zu übernehmen. Mit unserer exzellenten Forschungslandschaft, unserer starken Medizintechnikbranche und unserer ausgewiesenen KI- und Digital-Health-Expertise bringen wir ideale Voraussetzungen mit. Was noch fehlt, sind mutige politische Entscheidungen.
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