Immer mehr digitale Produkte und Apps bemühen sich mit gezielten medizinischen Unterstützungen und Leistungen um einen ernsthaften und nachhaltigen Nutzen für den Patienten. Eine Umfassende Erstattung dieser neuen Leistungen durch des primäre Gesundheitssystem ist dabei praktisch noch gar nicht möglich. Viel schlimmer sogar. Es besteht allgemeine Ratlosigkeit, wie denn heute und auch in Zukunft werthaltige Medizin-Apps im Rahmen der kollektiven Leistungsvergütung für den Patienten bezahlt werden sollen. 

Derzeit behelfen sich die Anbieter und die Krankenkassen mit der Bezahlung im Rahmen von individuell abgeschlossenen Selektivverträgen. Dies ist jedoch ein mühsames Unterfangen. Ein Selektivvertrag gilt zunächst nur für eine Kasse und einen Anbieter. Daher kommen bisher auch nur wenige Produkte und dann jeweils auch nur bei einem Bruchteil der Versicherten in Deutschland zur bezahlten Anwendung.  

Ein Blick in das Sozialrecht zeigt schnell, dass der heutige Ausweg aus den Individualverträgen hin zu einer kollektiven Erstattung nur über die Regelungen zum Hilfsmittel nach § 33 SGB V führt. Nur eine Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis (HMV) würde den neuen digitalen Leistungen die Möglichkeit einer kollektiven Erstattung geben. 

Bis heute ist es jedoch noch keiner Medizin-App gelungen, in das HMV aufgenommen zu werden. Es heißt allgemein, dass sei zu kompliziert, zu teuer und es würde viel zu lange dauern. Diese pauschalen Aussagen sollen im Folgenden jedoch noch einmal überprüft werden. Wenn das HMV der einzige Weg für eine sachgerechte bezahlte Versorgung mit Medizin-Apps ist, kann man diese Regelung ggf. ja so auslegen oder neu untermauern, so dass dieser Weg auch praktisch für Medizin-Apps gangbar wird. 

Die folgenden Erörterungen sollen zeigen, dass die Aufnahme in das HMV für eine Medizin-App keine unüberwindbare Hürde sein muss: 

  • Der Hilfsmittelbegriff ist durchaus auf Medizin-Apps anwendbar. Sofern Medizin-Apps erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, können sie grundsätzlich als Hilfsmittel eingestuft werden. Auch eine Software kann als Hilfsmittel anerkannt werden und es muss sich nicht ausdrücklich um einen Gegenstand handeln.
  • Die konkreten Methoden zur Sicherung eines Erfolges einer Krankenbehandlung sind zwar entsprechend klarzustellen, jedoch wäre hier ein erstes Anzeichen die Zulassung des Produktes als Medizinprodukt. Dieses setzt in seiner Zweckbestimmung gerade einen medizinischen Nutzen voraus und genau diesen fragt § 33 SGB V auch ab. Apps, die sich ernsthaft um medizinische Leistungen bemühen sind heute häufig schon als Medizinprodukt zugelassen und können diesen Status entsprechend nutzen. 
  • Für die Aufnahme in das Hilfsmittelverzeichnis ist auf Antrag gemäß § 139 SGB V der Spitzenverband der Krankenkassen zuständig. Der Nachweis der Funktionstauglichkeit und der Sicherheit eines Antrags kann weitgehend auf die Feststellungen und Zusammenstellungen im Rahmen der Konformität des Produktes als Medizinprodukt gestützt werden. Die Qualität und der medizinische Nutzen müssen ggf. gesondert insbesondere auch im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit einer Erstattung nachgewiesen werden. Sämtliche Anforderungen können durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) überprüft werden.
  • Zeitlich muss der Spitzenverband der Krankenkassen innerhalb von 3 Monaten nach Antrag und Eingang der vollständigen Unterlagen entscheiden. Im Rahmen des Bewertungsverfahrens kann der Spitzenverband der Krankenkassen fehlende Unterlagen und Nachweise nachfordern, die der Antragssteller dann innerhalb einer angemessenen Frist von insgesamt maximal 6 Monaten nachzureichen hat.
  • Liegt in der Leistung der Medizin-App eine Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode (NUB) vor, darf diese in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der GBA auf Antrag eine entsprechende Empfehlung in Form einer Richtlinie nach § 92 Abs. 2 Satz 1 SGB V über diese Methode abgegeben hat, § 135 Abs. 1 SGB V. Das könnte für eine Medizin-App durchaus eine zeitliche und auch formal aufwendige Hürde darstellen. Jedoch müsste die App damit überhaupt eine Methode sein und diese müsste außerdem noch neu sein. An der Auslegung dieser Frage wird sich in Zukunft entscheiden, ob Medizin-Apps einen Zugang zum HMV erhalten. In vielen Fällen greifen die Apps gar nicht auf neue Methodiken zurück, sondern verpacken lediglich altbekannte teilweise sogar leitlinienorientierte Wissens- und Handlungsabläufe in eine elektronische Form. Wendet beispielsweise eine Psychologie-App oder eine Physiotherapie-App lediglich das standardmäßige ärztliche und therapeutische Wissen an und verpackt es in eine Form, die für den Patienten 24/7 und an jedem Ort auch außerhalb von Praxen zur Verfügung steht, dann muss das nicht als eine NUB angesehen werden. Vielmehr bestünde hier Anlass, die Hürde für diese Leistungen für das HMV möglichst niedrig anzusetzen. Hier würde es reichen, alleine das Verhältnis zu dem heutigen medizinischen Stand der Technik auf den Prüfstand zu stellen und nicht eine völlig neue Methodik aufzurufen. 

Im Ergebnis zeigt das heutige Recht zur kollektiven Erstattung von notwendigen und sicheren Hilfsmitteln bereits den Weg auf, der auch für Medizin-Apps zu beschreiten wäre. Noch liegt es an dem Spitzenverband der Krankenkassen und auch an dem GBA, wie hoch die Hürden hier gesteckt werden. Fest steht aber auch, dass der GBA und der Spitzenverband auch nur so gut entscheiden können, wie die Sachverhalte durch die Anbieter vorgetragen werden.  

Damit ist es an der Zeit, den Mut aufzubringen und Medizin-Apps zur Aufnahme in das HMV anzumelden. Dieser Antrag sollte mit sehr guten Argumenten und Dokumenten hinterlegt werden, um die oben geschilderten Fragestellungen bestechend zu klären. Aufwand, Kosten und Zeit steht durchaus im Verhältnis zu den möglichen Chancen. Wer heute seinen Marktvorsprung nutzen will, muss auch an dieser Front den Vorreiter stellen. Auch die Politik sucht händeringend nach Lösungen für die Erstattungen von digitalen Leistungen in der Medizin. Hier sollte man den wohlwollenden Strömungen mit entsprechenden Aktivitäten auch unter die Arme greifen. Ohne den Versuch in das HMV aufgenommen zu werden, wird auch keine Medizin-App im HMV aufgenommen. 

 

Sebastian Vorberg, LL.M. (Houston)
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht