Digitale Strategien in der Medizin
Eine erfolgreiche Digitalisierung braucht eine digitale Identität
Plötzlich ist er auch in der Medizin angekommen: Der Wunsch nach Digitalisierung. Nun aber schnell! Innovation schläft nicht und wer zu lange zögert, der wird überholt. Kurzerhand werden Abteilungen gegründet, Projekte geschaffen und Produkte unter Vertrag genommen.
Wenn man sich ein ein wenig im Markt umhört, findet man auch die aktuellen Trends. Schnell habe ich als Krankenkasse eine Tinnitus-App im Angebot, als Arzt einen kleinen Kasten für Patientendaten installiert und als Pharmafirma ein paar Videos mit dem charmanten Internetarzt ins Netz gestellt. Schon ist man mitten in der Digitalisierung.
Ein gefährlicher Trugschluss!
Sorry, aber das ist eine Falle! Man könnte es auch als kopflos beschreiben. Wo kämen wir denn hin, wenn die ersten nennenswerten Produkte auf dem Markt der digitalen Medizin weitgehend unreflektiert den Ton der digitalen Strategie eines Unternehmens des Gesundheitswesens angeben. Das wäre ja so, als wenn alle Gesundheitsfirmen nach Erfindung der Arzneimittel ohne weiteres nachdenken auf Aspirin und Penizillin aufgesprungen wären.
Das aufkommende Portfolio der digitalen Möglichkeiten in der Medizin ist vielfältig und anspruchsvoll. Nimmt man den Begriff der Internetmedizin, so fallen hierunter alle digitalen Möglichkeiten der Aufklärung, des Selbstschutzes und der Datenmedizin für den Patienten. Dazu gehören u.a. Webseiten, Soziale Netzwerke, Internetmarketing, SEO, Growth Hacking, Foren, Influencer, Suchmaschinen, Wikis, Vergleichsportale, Bewertungen, Onlineshops, Onlinefilialen, Datenplattformen, Datensafes, Schnittstellen, Videos, Interaktive Darstellungen, Animationen, Algorithmen, Applikationen, Virtual Reality, AI, Chat Bots, Datenkraken, Emails, Chats, Videokommunikation und noch vieles mehr. Dieses Portfolio der digitalen Möglichkeiten wird dabei täglich größer.
So ein Quick-Shot auf einzelne Apps oder Ideen in diesem Markt hat nichts mit Digitalisierung zu tun, sondern ist ein Schuss in die Luft mit verbundenen Augen. In den Zeiten der ersten Stunden kann dies allenfalls einen Imagegewinn bringen „Wir sind jetzt (auch) digital!“, kann das Unternehmen aber nicht nachhaltig im Rahmen der Digitalisierung voranbringen.
Was ist hier mit der Digitalisierung der Medizin los. Zuerst ist man undifferenziert skeptisch und dann rennt man kopflos los? Wo ist die Tugend hin, dass ein Unternehmen eine Strategie braucht, um eine nachhaltige erfolgreiche Ausrichtung zu begleiten. Als Mensch und als Unternehmen braucht man ein nachhaltiges Ziel, um seinen Lebensmut und seine Motivation zum Erfolg zu bringen. Sonst verliert man die Orientierung. Diese Motivation speist sich aus der Identität eines Menschen oder eines Unternehmens. Diese Erkenntnis scheint den Unternehmen des Gesundheitswesens in Erwartung der disruptiven Digitalisierung abhandengekommen zu sein. Noch ist es nicht zu spät. Stoppt das ziellose Schnellfeuer auf die digitale Medizin und kümmert Euch um eine digitale Strategie. Dann klappt das mit der Digitalisierung von ganz alleine.
Stichwort: Digitale Strategie
Was ist nun aber eine digitale Strategie? Auch hier gibt es leider kein Pardon. Manche machen da ja so einen Hub oder einen Explorator, um Erfahrungen zu sammeln? Nein! – Auch das ist ggf. eine gute Methode, aber noch lange keine Strategie. Eine digitale Strategie muss die Firmen des Gesundheitswesens in ihrem Kern erreichen, in ihrer Identität. Von diesem Kern aus muss die neu ausgerichtete Identität in alle Bereiche des Unternehmens ausstrahlen und schließlich beim Kunden für den gewünschten Erfolg sorgen.
Was dies im Einzelnen bedeutet, muss dann jedes Unternehmen ganz individuell für sich entscheiden. Das ist ja auch das Schöne an einer digitalen Identität, sie ist individuell und bedient jeweils für sich den gewünschten Ausschnitt der Bedürfnisse des Marktes.
Um diesen abstrakten Worten schon mal einen pragmatischen Voranstrich zu geben, hier ein paar Beispiele zur Orientierung:
- Die Pharmafirma, die sich bisher ausschließlich darum gekümmert hat, den Arzt zur Verordnung der eigenen Produkte zu motivieren, könnte feststellen, dass die strategische Ausrichtung der Firma im Rahmen der Digitalisierung auch oder vielleicht sogar vornehmlich auf den Patienten abgestimmt werden muss. Dieser ist der Gewinner der Digitalisierung und vielleicht kann man ihn ja motivieren beim Arzt eine Vorliebe für ein Produkt zu äußern oder gleich einen Arzt aufzusuchen, der das eigene Produkt bevorzugt. Das Portfolio der Möglichkeiten sollte daraufhin danach untersucht werden, welche digitalen Mittel eine Neuausrichtung auf den Patienten zum Erfolg führen könnten.
- Der Arzt, der sich bisher in seiner Praxis eingeigelt hat und Patienten am Fließband behandelt hat, könnte seine Identität in Richtung digitale Kommunikation ausrichten und so seine eigene Freiheit und die Freiheit des Patienten zur neuen Motivation verhelfen.
- Die Krankenkasse, die sich bisher nur als Verwalter der Reparaturmedizin gesehen hat, kann die Nähe zu seinen Versicherten – dem Patienten – suchen und sich strategisch im Rahmen der Digitalisierung so aufstellen, dass insbesondere die persönlichen und kommunikativen Mittel der Internetmedizin zur Anwendung kommen. Künstliche Intelligenz und unpersönliche Chat Bots fallen hier vielleicht raus.
- Das Krankenhaus, das bisher als professioneller aber anonymer Gesamtversorger aufgestellt ist, könne mit persönlichen digitalen Kommunikationsmitteln daran arbeiten, ein professionelles und umfassend umsorgendes Krankenhaus zu werden, in dem sich der Patient nicht nur gut aufgehoben fühlt, sondern mit dem sich der Patient auch persönlich verbunden fühlt.
Selbst dieser Schnellschluss auf einen Identitätswechsel der Firmen im Gesundheitswesen ist unzulässig. Die professionelle Arbeit an der Identität und damit an dem Kern eines Unternehmens ist harte und auch aufwendige Grundlagenarbeit an dem individuellen Unternehmen. Diese Arbeit muss jedoch im Rahmen der Digitalisierung von Gesundheitsunternehmen auf sich genommen werden, um überhaupt die Möglichkeit für eine erfolgreiche Digitalisierung zu schaffen. Sonst wird die Digitalisierung dem Zufall überlassen und muss scheitern.
Häufig haben die Unternehmen ja schon einen Markenkern und damit auch eine Identität für sich entwickelt. Darauf kann man sich bei so starken Veränderungen mit disruptiver Wirkung aber nicht mehr umfassend verlassen. Zumindest sollte noch einmal überprüft werden, ob diese Ausrichtung, an der die gesamte Marschrichtung des Unternehmens hängt, noch stimmig ist. Grundsätzlich kann und sollte hier natürlich an den alten Werten des Unternehmens angeknüpft werden. Der Markenkern und daraus folgend die Strategie muss aber für die Stabilität in der Zukunft den Bereich der digitalen Identität abdecken.
Die digitale Identität knüpft dabei unmittelbar an dem individualen Wunsch des Unternehmens an, alle sinnvollen digitalen Möglichkeiten zu nutzen, um seinem Kunden – in der Medizin häufig dem Patienten – individuell zu gefallen. Hat die Unternehmensführung hier eine Identität entwickelt, legt es damit gleichzeitig die ganze Orientierung für die Digitalisierung des Unternehmens fest. Erst wenn dieser Grundstein das Fundament prägt, können die Mitarbeiter von den neuen Wegen überzeugt werden.
Ein klares Indiz für eine mangelnde Identität des Unternehmens in der Digitalisierung ist es zum Beispiel, wenn es zwar eine Abteilung „Digital“ gibt, von welcher jedoch kaum ein anderer Mitarbeiter weiß, was diese überhaupt tut und sich viele der Alteingesessenen der Belegschafft fragen, warum da eigentlich das Geld “verbrannt” wird. Eine digitale Harmonie innerhalb des Unternehmens kann es nur geben, wenn alle die digitale Identität vermittelt bekommen haben. Wenn dann die Mitarbeiter die neue Motivation des Unternehmens verstanden und angenommen haben, dann werden die neuen Projekte, Produkte und Verträge auch ein Erfolg.
Digitalisierung braucht Identität!
Digitalisierung in der Medizin fängt also im Herzen eines jeden Unternehmens an und braucht eine klare individuelle und emotionale Orientierung. Erst dann können die Maßnahmen der Digitalisierung fruchten. Wer aber, vermeintlich nicht validierten Zielen folgend, Apps und andere digitale Produkte am Wegesrand aufsammelt, wird keine Freude an dem Ergebnis haben und seinem Unternehmen keinen Gefallen tun. Digitalisierung braucht eine digitale Identität.
Sebastian Vorberg LL.M. (Houston)
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht